Die Aufregung der Bürger wegen der neuen 'Kopftuch-Entscheidung' des BVerfG zeigt wieder einmal, wie wenig das Grundgesetz in der deutschen Rechtsgemeinschaft verstanden wird.
Bei der Diskussion um den Edathy-Fall kam das auch schon sehr deutlich zum Ausdruck.
Ich persönlich finde die Kopftücher als Ausdruck einer Religion schrecklich und frauenfeindlich, gar keine Frage. Es ist aber in unserem Rechtsstaat nicht verboten, Abwertendes über Frauen zu sagen, zu denken oder sie gar dementsprechend zu behandeln. Da erwartet man sogar immer noch, dass die Frauen das demütig akzeptieren. Sie gelten sonst als wenig charmant. Dies sieht man in vielen Bereichen unseres Lebens, z. B. an der chronischen schlechteren Bezahlung von Frauen für gleiche Arbeit wie die Männer und an der Existenz von 'Flatratebordellen'. Das alles finde ich schlimmer, als ein Kopftuch zu tragen, obwohl es in meinem Verständnis auch ein Ausdruck eines Stockholmsyndroms der Frauen ist, die das Kopftuch 'freiwillig' tragen, wie auch der Frauen, die 'freiwillig' in einem Flatratebordell u.ä. 'arbeiten'. Außerdem gibt es auch in der christlichen Tradition zahlreiche ähnliche Phänomene wie das Tragen des Kopftuchs im Islam.
Persönliche Meinungsäußerungen fallen sowohl unter den Schutz des Artikels 4, wie auch des Art. 5 GG, wenn dadurch nicht bestimmte Schranken, die ebenfalls die gesetzlich vorgegeben sind, verletzt werden.
Um etwas ganz anderes ging es bei dem Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 , denn ein Kruzifix im Klassenzimmer ist keine individuelle Meinungsäußerung, sondern die "Meinungsäußerung" einer Institution. Das ist anders zu bewerten, da eine Institution keine individuellen Meinungen äußern kann. Ein Kruzifix im Klassenzimmer verstößt gegen das gesetzliche Gebot der religiösen Neutralität des Staates.
Leider können selbst so einfache Gedankengänge die meisten Bürger, die meinen, dass sie einen Rechtsstaat im Sinne des Grundgesetzes vertreten, die nun wegen des BVerfG-Urteils schäumen, nicht nachvollziehen.
Herbert Riehl-Heyse berichtete 1995 sehr schockiert, dass die SZ noch nie so mit einer solchen Flut von negativen Leserbriefen bombardiert worden sei, im wahrsten Sinne bombardiert, wie nach dem Kruzifixurteil des BVerG. Riehl-Heyse war nicht nur ein sehr guter Journalist sondern auch ein sehr guter Jurist.
Absender waren damals die fundamentalistischen Christen im Lande, die die religiöse Neutralität des Staates in der Erziehung unzumutbar fanden.
Wie gesagt: das Tragen eines Kopftuchs oder einer Rosenkranzkette oder einer Kippa, sind aus Ausdruck eines individuellen Freiheitsrechts und fallen nicht unter das Neutralitätsgebot des Staates, sondern werden von Art. 4 und 5 Grundgesetz geschützt!
Es ist niemand verwehrt, sich persönlich mit einer Lehrerin und ihrem Selbstverständnis als Frau auseinanderzusetzen, wenn sie ein Kopftuch trägt. Jeder der das tut, sollte sich aber auch gleichermaßen gegen die Benachteiligung der Frauen im christlichen Abendland engagieren.
Wie sagte schon eine emanzipierte Frau Anfang des 20 Jahrhunderts: Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Diese Frau wurde am 15. Januar 1919 von Leuten umgebracht, die auch in diesem Punkt ganz anderer Meinung waren als sie und die dann ihre Meinungen nicht in einer geistigen Auseinandersetzung, sondern durch brachiale Gewalt durchsetzten.